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Zischup-Interview

Anna Grebinichenko aus der Ukraine: "Frieden – aber nicht um jeden Preis"

  • Alissa Hnatyuk, Klasse 8b, St. Ursula-Gymnasium (Freiburg)

  • Fr, 26. April 2024, 12:15 Uhr
    Schülertexte

     

Anna Grebinichenko kommt aus dem Nord-Osten der Ukraine. Im Gespräch mit ihrer Nichte Alissa Hnatyuk berichtet sie über ihre Lebenssituation inmitten des Krieges und teilt ihre Sicht über unsere Welt.

Anna Grebinichenko bei ihrer Rückkehr in die Ukraine im April 2023  | Foto: Eugenij Grebinichenko
Anna Grebinichenko bei ihrer Rückkehr in die Ukraine im April 2023 Foto: Eugenij Grebinichenko
Zischup: Wie hast du dich gefühlt, als du die Warnsirene zum ersten Mal gehört hast?
Grebinichenko: Die Warnsirene hörte ich nach dem Ausbruch des Krieges im vollen Umfang erst am frühen Morgen des 25. Februar 2022. Man muss sich klar vorstellen, was das bedeutete. Es bedeutete, dass Raketen und Bomben direkt auf uns zuflogen. Das macht richtig Angst. Man hat das Gefühl, dass man jede Minute sterben könnte. Mittlerweile verfügen wir über eine Warn-App, die genau zeigt, was fliegt, welche Art von Waffe es ist und wie der Flugweg aussieht. Somit kann man genau sehen, wohin eine Rakete gerade in der Nähe fliegt. Aber selbst wenn man erkennt, dass die Rakete weiterfliegt und nicht in der Nähe explodiert, ist es unglaublich schrecklich, sich bewusst zu sein, dass so etwas passiert.

Zischup: Wie gehst du heute mit der Situation um? Ist es anders als am Anfang des Krieges?
Grebinichenko: Meine Gefühle und Empfindungen haben sich in diesen zwei Jahren verändert. Nach dem anfänglichen Schockzustand wurde mir die Gefahr bewusst. Da wir biologisch gesehen in einer Gefahrensituation instinktiv entweder kämpfen oder fliehen, wäre es normalerweise meine Reaktion gewesen zu kämpfen. Doch ich hatte auch Verantwortung für den Neffen meines Ehemannes, der damals bei uns wohnte, sowie für meine zwei Hunde und meine Katze, die ich in Sicherheit bringen musste. So verstand ich, dass ich trotz der russischen Truppen, die uns über die weißrussische Grenze schnell erreichten, um jeden Preis, auch unter Beschuss, meinen Neffen und die Tiere aus der Gefahr bringen musste. Das ist mir auch gelungen, und ich verbrachte ein Jahr lang im Ausland als Geflüchtete. In dieser Zeit änderten sich meine Gefühle stark. Mittlerweile lebe ich seit einem Jahr wieder zu Hause und fühle, dass hier mein Platz ist. Ich bin bereit, alles zu tun, um den Sieg über Russland zu ermöglichen: Zu arbeiten, Steuern zu zahlen, denen zu helfen, die besonders auf Hilfe angewiesen sind – Menschen wie Tieren. Ich fühle mich stark und selbstbewusst und akzeptiere diesen Weg, obwohl die Gefahr noch nicht vorüber ist und mir bewusst ist, dass ich sterben könnte. Allerdings hätte ich im Ausland bleiben müssen, wenn ich eigene Kinder gehabt hätte.

Zischup: Was wünschst du dir jetzt am meisten?
Grebinichenko: Mein größter Wunsch ist Frieden, jedoch nicht um jeden Preis. Das bedeutet, wenn der Krieg eingefroren wird und Russlands Interessen berücksichtigt werden, würde dies keinen dauerhaften Frieden bedeuten, sondern eine zerstörerische Botschaft an die Welt senden: Autoritäre Regierungen mit Ressourcen und Waffen könnten sich ungehindert durchsetzen, andere Länder ausbeuten, Gewalt anwenden und ungestraft töten. Wir haben bereits einen zu hohen Preis im Kampf dagegen bezahlt und zahlen ihn weiterhin. Ich wünsche mir, alle Menschen auf der Welt würden dies auch verstehen.
Mehr Texte von Jugendlichen für Jugendliche gibt’s hier und unter "Schülertexte".

Zischup: Was hätte man deiner Meinung nach tun müssen, um den Krieg zu verhindern?
Grebinichenko: Ich bin der Meinung, dass die Nato-Länder dem Antrag der Ukraine zum Nato-Eintritt 2008 hätten zustimmen sollen. Allein das hätte den Krieg verhindert. Darüber hinaus hätte eine klare, eindeutige Reaktion des Westens auf die russischen Militäreinsätze in Georgien im gleichen Jahr und auf die Besetzung der Krim 2014 Russland klargemacht, dass ihre imperialistische Besatzungspolitik inakzeptabel ist.

Zischup: Was denkst du über Russland?
Grebinichenko: Im Gegensatz zu einigen Menschen in der Ukraine, die Illusionen bezüglich Russland hatten und nun enttäuscht und angeekelt von diesem Land sind, hatte ich keine. Ich kenne die Geschichte zu gut. Das ermöglichte mir, bereits zu Beginn der 2000er Jahre zu erkennen, wohin Russland steuert. Darüber hinaus hat der Imperialismus in der Kultur längst Wurzeln geschlagen, die alles andere klein machen und die Vielfalt der Ethnien und kulturellen Reichtümer des Landes zerstören. Für mich war und bleibt Russland wie ein Krake, der alles, was er berührt, zum Verfall bringt.

Zischup: Was möchtest du den Leuten in Deutschland gerne noch mitteilen?
Grebinichenko: Dass wir jetzt nicht nur für uns selbst Widerstand leisten, sondern für die Zukunft, für die kommende Generation nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit. Es geht darum, dass die Menschheit erkennt, dass die Kinder von heute eine sichere, friedvolle und freie Welt brauchen und dass es unsere Verantwortung ist, alles zu tun, um dies möglich zu machen. Ich bitte die Leserinnen und Leser, den russischen Krieg gegen die Ukraine aus einer globalen Perspektive zu betrachten. Ich wünsche mir, dass jeder Mensch sich bewusst wird, wie sehr wir auf diesem Planeten miteinander verbunden sind: wirtschaftlich, sozial, kulturell und ökologisch. Wir müssen unser Leben hinterfragen, um eine bessere Welt an unsere Kinder weitergeben zu können. Dafür müssen wir die Werte verteidigen, auf denen eine solche Zukunft aufbaut: Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Für mich sind das keine leeren Worte, sondern meine Lebensrealität.

Ressort: Schülertexte

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 26. April 2024: PDF-Version herunterladen

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