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Waghalsige Aktionen

Warum Menschen auf Güterzüge klettern und sich in Lebensgefahr begeben

  • Christian Thiele und André Jahnke (dpa)

  • Fr, 07. Oktober 2022, 19:26 Uhr
    Panorama

     

Für Likes riskieren manche viel. Sogar ihr eigenes Leben. Bahn und Polizei werden nicht müde, vor der Gefahr zu warnen, auf Zügen herumzuklettern. Dennoch kommt es immer wieder zu Unfällen.

Die Spannung in der Oberleitung liegt bei bis zu 15000 Volt.  | Foto: IMAGO/Arnulf Hettrich
Die Spannung in der Oberleitung liegt bei bis zu 15000 Volt. Foto: IMAGO/Arnulf Hettrich
Für ein Selfie mitten in der Nacht begeben sich die zwei jungen Männer in große Gefahr. Sie klettern in der Nähe von Kaiserslautern auf einen Güterwaggon. Als sich einer von ihnen oben aufrichtet, kommt er vermutlich mit dem Arm in die Oberleitung und erleidet einen heftigen Stromschlag. So berichtet es die Bundespolizei im Sommer nach der Befragung von Zeugen. Der 17-Jährige wird vom Waggon geschleudert und bleibt regungslos am Boden liegen. Rettungskräfte reanimieren ihn. Er ist schwer verletzt.

Fälle enden oft mit schwersten Verletzungen

Immer wieder verunglücken Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, aber auch Erwachsene, weil sie einer Oberleitung zu nahe gekommen sind, wie eine Sprecherin der Bundespolizei in Potsdam sagt. "Ursächlich für diese Unfälle sind meist das Klettern auf Güterwagen und auf Strommasten oder das S-Bahn-Surfen." Die Bundespolizei führt einen "überwiegenden Teil der Unfälle" darauf zurück, dass jemand ein Foto auf einem Eisenbahnwaggon machen wollte – zur Mutprobe oder aus Leichtsinn.

"Fast alle Unfälle endeten mit schwersten Verletzungen oder tödlich", sagt die Sprecherin. Adrian hat bei einem solchen Unglück seinen Freund verloren. Die beiden Jugendlichen kletterten 2019 im Landkreis Deggendorf in Bayern auf einen Güterwaggon. Dann der Stromschlag. Adrian überlebte schwer verletzt. "Ich weiß nicht, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Der Tag ist weg", sagte er ein Jahr danach dem Bayerischen Rundfunk noch sichtlich bewegt. Er musste erst wieder gehen lernen. "Auf der Intensivstation wollte ich immer aufgeben."

Bahn will mit Prävention Unglücke verhindern

Wie lassen sich solche Unglücke verhindern? Einen Zaun um alle Bahn-Anlagen zu setzen, was Angehörige Verunglückter oft fordern, ist laut Bahn wegen der vielen Bahnhöfe und des riesigen Gleisnetzes nicht möglich. Eine Bahnsprecherin stellt aber klar: "Es ist verboten, Bahnanlagen zu betreten."

Bahn und Bundespolizei setzen daher auf Aufklärung. Sechs Präventionsteams seien bundesweit unterwegs. "Das gemeinsame Ziel ist es, durch frühzeitige Information Unfälle zu verhindern", sagt eine Bahnsprecherin.

Bastian Peter ist einer der Präventionsbeauftragten der Bahn. Viele Jugendliche unterschätzen die Gefahr durch Selfies auf Gleisen und an Zügen, sagt er. "Durch die Stromleitungen fließen bis zu 15 000 Volt. Da muss man nicht mal die Leitungen berühren, um einen Schlag zu bekommen mit lebensgefährlichen Folgen", warnt er.

"Strom ist in der Lage, die Luft zu überspringen und auf einem Lichtbogen über den Körper zur Erde zu gelangen" Bundespolizei
"Das sind 65 Mal mehr als in der Steckdose zu Hause", sagt auch die Sprecherin der Bundespolizei in Potsdam. Stromschläge passierten schon, wenn der Mindestabstand von 1,50 Meter nicht eingehalten werde. "Strom ist in der Lage, die Luft zu überspringen und auf einem Lichtbogen über den Körper zur Erde zu gelangen", warnt die Bundespolizei in einem Flyer. Der menschliche Körper bestehe zu zwei Dritteln aus Wasser und sei dann der "leitende Gegenstand".

"Wer also glaubt, das Klettern auf Bahn-Waggons sei cool und ungefährlich, der irrt gewaltig", heißt es. Und dennoch wird die Gefahr "in den meisten Fällen aus Unkenntnis oftmals völlig unterschätzt", sagt die Sprecherin. Die Polizei weiß, dass Bahnanlagen "verlockende Aufenthaltsorte" sind. Es wird ein Selfie gemacht, das in sozialen Netzwerken wie Instagram hochgeladen wird.

Ein Medienpsychologe hat eine Erklärung für das Phänomen

Dafür gibt es oft viele Likes. "Diejenigen genießen dann mehr Ansehen", sagt der Medienpsychologe Frank Schwab von der Uni Würzburg. Weil viele übers Handy Zeuge der waghalsigen Aktionen werden, führe das zu einem Statusgewinn. Ein höheres Ansehen ist dem Fachmann zufolge so leichter zu erreichen, als wenn man etwa vor der Schulklasse mit einem Streich auf sich aufmerksam macht.

Doch mit Selfies an der Leiter eines Waggons gefährden Kinder und Jugendliche nach Schwabs Auffassung nicht nur sich selbst: "Das führt dazu, dass die Idee Nachahmer findet." Gegensteuern könnten Freunde und Bekannte, wenn "andere die Selbstinszenierung uncool finden und eine andere Haltung einnehmen".

Ressort: Panorama

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 08. Oktober 2022: PDF-Version herunterladen

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