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Eine Stadt voller Unruhe

Frank Herrmann
  • Sa, 11. August 2018
    Deutschland

     

Vor einem Jahr marschierten im US-amerikanischen Charlottesville Neonazis auf / Die Folgen der gewalttätigen Krawalle sind bis heute zu spüren.

Rechtsextremisten gegen Gegendemonstranten: Charlottesville am 12. August 2017  | Foto: dpa
Rechtsextremisten gegen Gegendemonstranten: Charlottesville am 12. August 2017 Foto: dpa
CHARLOTTESVILLE. Ein Kind zu verlieren, sagt Susan Bro, das sei, als hätte einem jemand einen Arm oder ein Bein amputiert. "Du musst es überleben, das Leben muss ja weitergehen. Es ist nicht angenehm, es ist nicht das, was du dir je vorgestellt hast. Aber du kannst es schaffen." Sie habe überlebt, was vor einem Jahr passierte, also werde sie wohl auch diesen Jahrestag überleben.

Susan Bro hat ihre Tochter verloren an jenem 12. August 2017, an dem Charlottesville im Chaos versank. An dem die zwischen grünen Hügeln gelegene Universitätsstadt in Virginia eine Machtdemonstration von Neonazis erlebte, wie man sie in Amerika bis dahin für unvorstellbar gehalten hatte. Nachdem eine Kundgebung wegen heftiger Ausschreitungen abgebrochen worden war, raste ein 20-jähriger rechtsextremer Fanatiker namens James Alex Field mit seinem Auto im Stadtzentrum in eine Menschenmenge. Heather Heyer überlebte das Attentat nicht, während andere mit Verletzungen davonkamen. Deshalb sitzt Susan Bro im Büro einer Stiftung, die dem Andenken an ihre Tochter gewidmet ist.

An den Wänden dominiert die Farbe Lila, Heathers Lieblingsfarbe. Die Stiftung, so stellt es sich die ehemalige Lehrerin vor, soll genug Spenden sammeln, um begabten Teenagern aus einfachen Verhältnissen ein Studium finanzieren zu können. Ein Klimmzug angesichts der horrenden Studiengebühren amerikanischer Colleges. Kämpfen werde sie, um einer neuen Generation von Heathers eine gute Bildung zu ermöglichen, Menschen, die sich empören, wenn sie Unrecht sehen. Letzteres sei die Maxime ihrer Tochter gewesen, "und wer geglaubt hat, mein Kind durch Terror zum Schweigen bringen zu können, der hat sich geirrt".

Larry Miller, der auf Grundstücksrecht spezialisierte Jurist, bei dem die Rechtsanwaltsgehilfin Heyer beschäftigt war, hat ein Zimmer seiner Kanzlei räumen lassen, um Bro ein Domizil für ihre Stiftung zu bieten. Alfred Wilson, Millers rechte Hand, erzählt von den Spätfolgen des Attentats. Eine junge Kollegin hat gekündigt, weil sie ihre Nerven nicht mehr unter Kontrolle bekam an diesem Ort, an dem so vieles an Heather erinnert. Auch sie war vor zwölf Monaten am Tatort, und jedes Mal, wenn eine Tür laut ins Schloss fiel, musste sie an die schrecklichen Szenen in der Innenstadtgasse denken. An das Geräusch des Aufpralls, als der Dodge Menschen durch die Luft wirbelte.

Wilson selbst muss jedes Mal um Fassung ringen, wenn eine dieser E-Mails bei ihm eingeht. Es sind drohende, höhnische, hasserfüllte Mails. Wann immer er an den Tod dieses "wertlosen Stücks Scheiße" denke, erfülle es sein Herz mit "purer Freude", hat neulich einer geschrieben, getarnt hinter dem Pseudonym Dragon Sailing. "Schade nur, dass der Fahrer nicht alle erwischt hat." Ein anderer schickte ein Video der Attacke, unterlegt mit Jubelklängen.

Zwei bis drei solcher Mails erhält Wilson an einem durchschnittlichen Tag. Manchmal geht es auch direkt gegen ihn, den Afroamerikaner. Er würde diese Leute gern treffen, sagt er, nur um zu begreifen, woher diese Wut komme. Wilsons Sohn hat sich einen voluminösen Afro-Haarlook wachsen lassen. Der Vater würde am liebsten zur Schere greifen, weil er nicht möchte, dass der Achtzehnjährige zur Zielscheibe wird. Andererseits versteht er es: Es sei die Art seines Sohns, auf das Geschehene zu reagieren. Er wolle seine Identität nicht verbergen, jetzt erst recht nicht, hat ihm der Junge erklärt.

Zum ersten Mal hat die Stadt eine schwarze Bürgermeisterin

Charlottesville ein Jahr danach, das ist eine Stadt voller Unruhe. In der die Emotionen aufwallen, sobald im Rathaus ein Bürgerforum stattfindet, was manche Menschen sehr irritiert, gilt doch im Süden der USA mehr als anderswo die Regel, dass man seine Gefühle hinter einer Fassade der Höflichkeit versteckt. Es ist aber auch eine Stadt im Wandel, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine schwarze Bürgermeisterin hat.

Dass Charlottesville so sträflich unvorbereitet war, als die rechten Horden einfielen, wurde der alten Garde zum Verhängnis. Noch immer ist unbegreiflich, warum die Polizisten, die eine Kundgebung der Alt-Right-Bewegung abzuschirmen hatten, tatenlos zusahen, wie rechte Schläger mit Baseballknüppeln und Eisenrohren auf linke Gegendemonstranten losgingen. Warum eine dubiose Miliz, bewaffnet mit Sturmgewehren, aufziehen konnte, um die weißen Überlegenheitsfanatiker zu schützen. Als wäre eine feindliche Armee einmarschiert.

Dem Ärger über den Kontrollverlust hat Nikuyah Walker ihren Aufstieg zu verdanken. Sie war als Unabhängige ins Rennen ums Bürgermeisteramt gegangen. Die Sozialarbeiterin kennt das Elend in heruntergekommenen Mietskasernen, in denen mehrheitlich Schwarze wohnen. Sie macht es zum Thema, sie will Bauunternehmer zwingen, in ihren Projekten deutlich mehr Sozialwohnungen als bisher anzubieten.

Walker, beobachtet die Historikerin Andrea Douglas, sei eine Symbolfigur der neuen Unruhe. Sie bringe manche in diesem netten Städtchen überhaupt erst dazu, einer Realität ins Auge zu blicken, die man bisher gern verdrängt hat. Charlottesville, erklärt Douglas, verstehe sich ja als linksliberale Insel in der ländlichen, konservativen Mitte Virginias. Urban, tolerant, geprägt durch eine traditionsreiche Universität. Im November 2016 hat sie Hillary Clinton mit klarer Mehrheit den Vorzug vor Donald Trump gegeben.

In einem Buchladen in der lauschigen Fußgängerpassage liest bisweilen Star-Autor John Grisham, auch er einst ein bekennender Clinton-Fan, aus seinen Thrillern. Zu einer Ausnahmestadt habe man sich verklärt, meint Douglas, "dabei war es nur ein Mythos". Unangenehme Wahrheiten habe man lange unter den Teppich gekehrt, weil sie nicht ins Bild vom aufgeklärten, progressiven Charlottesville passten. Nur ein Beispiel: Nur jeder fünfte der 48 000 Einwohner hat dunkle Haut, doch wenn Polizeibeamte Passanten anhalten und deren Taschen durchsuchen, ohne dass es konkrete Verdachtsmomente gebe, dann seien zu 80 Prozent Afroamerikaner die Betroffenen.

Jalane Schmidt hat zu einem Rundgang durch die Innenstadt eingeladen, er beginnt am einstigen Sklavenmarkt. Eine winzige Bronzeplatte auf dem Bürgersteig erinnert daran, so unscheinbar, dass man sie leicht übersieht. In der Nähe, in kleinen Parks, reiten die Südstaatengeneräle Robert Lee und Thomas Jackson in die imaginäre Ferne, überlebensgroße Bronzefiguren, an denen sich heftiger Streit entzündet hat. Dass sie demontiert werden sollten, war einer der Gründe, warum die Neonazis Charlottesville ins Visier nahmen.

Nach der Gewaltorgie des vorigen Sommers hat man sie unter schwarze Planen versteckt, bis vor sechs Monaten ein Richter entschied, dass Lee und Jackson weiterhin unverhüllt auf ihren Sockeln thronen dürfen. Und nicht weichen müssen. Noch immer ziehen die beiden Denkmäler rassistische Fanatiker an, als wären sie Wallfahrtsorte.

Flagge zeigen gegen die Fanatiker

Weshalb Schmidt manchmal noch spätabends in die Parks eilt, um Flagge zu zeigen. 49 Jahre alt, Mutter zweier Töchter im Teenageralter, Dozentin für religiöse Studien, ist sie zugleich Aktivistin der Schwarzenbewegung Black Lives Matter. Deren Devise lautet, den öffentlichen Raum nicht noch einmal den Neonazis zu überlassen. Sobald also einer der Fanatiker zu Füßen Lees oder Jacksons auftaucht und sie bei Black Lives Matter Wind davon bekommen, wird Alarm geschlagen. "Diese Leute sollen sich einfach unwohl in dieser Stadt fühlen", sagt Schmidt. "Sie sollen spüren, dass sie nicht willkommen sind."

Und Donald Trump? Fragt man Susan Bro nach dem Präsidenten, macht sie eine abwehrende Handbewegung. Trump sei ein Symptom, nicht die Ursache. "Er ist ein Symptom dafür, was alles schiefläuft in unserem Land. Er wäre ja nicht gewählt worden, wenn so viele Leute nicht so viel Hass in sich hätten." Würde sie ihn treffen, würde sie ihm raten, was sie in ihrer Schule schon Viertklässlern riet: Nachdenken, bevor man redet. Immer bei der Wahrheit bleiben. Und Verantwortung übernehmen für das, was man mit Worten ausgelöst hat.

Ressort: Deutschland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 11. August 2018: PDF-Version herunterladen

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