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Wenn wir alle rosarote Brillen tragen

  • Bettina Giessler

  • Sa, 05. Mai 2001
    Zisch

     

MIR GEHT'S SUPER: Von Frühlingsgefühlen, verrückten Hormonen und von der Zirbeldrüse, die unsere Flirtlaune bestimmt.

OFFENBURG. Es ist mal wieder soweit: die blauen Säulen in den Thermometern klettert endlich wieder himmelwärts, die Rocksäume rutschen ein Stückchen höher, die Eiscafes machen das Geschäft des Jahres und wohin man auch schaut, scheinen zwischen den bunten, nach Frühling duftenden Blumen die Liebespärchen nur so aus dem Boden zu sprießen. Ach, kann denn nicht immer Frühling sein . . .

Dass der Frühling bei diesem menschlichen Ausnahmezustand seine Finger im Spiel hat, daran zweifelten schon die Minnesänger und die romantischen Dichter kein bisschen. Heute wissen wir es genauer: Melatonin ist der eigentliche Übeltäter. In seiner Hand liegt es, ob die Herzen der Menschen höher schlagen, die Augen zu funkeln beginnen und man (und frau) am liebsten die ganze Welt umarmen möchte.

Wer sich Melatonin jetzt als kleinen, weißbärtigen Mann im blauen Zaubermantel mit silbernen Sternchen vorstellt, der von seinem Onkel Merlin einmal im Jahr zur Erde geschickt wird, um Frühlingsgefühle zu verstreuen, liegt so ziemlich falsch. Der fremde Stern, von dem Melatonin kommt, heißt Zirbeldrüse und ist uns gar nicht sehr fern. Sie ist ein kleines Organ, das sich zwischen den beiden Hirnhälften jedes Menschen befindet und wurde von dem Philosophen Descartes wegen seiner besonderen Lage im Gehirn sogar für den Sitz der Seele gehalten. Eben diese Zirbeldrüse produzierte ein Hormon, das Melatonin, das entscheidend darüber mitbestimmt, ob wir eher in Flirtlaune oder in einer Schau-mich-bloß-nicht-an-und-nerv-mich-nicht-Stimmung sind.

Es gibt eine körperliche Grundlage für das, was in unserem Kopf passiert

Hochkonjunktur der Hormone? Bloß nicht, wenn es sich um unser Melatonin handelt! Bei diesem Hormon gilt: Weniger ist mehr. Denn je weniger wir von diesem Hormon besitzen, umso größer wird die sexuelle Erregbarkeit und die Lust auf einen Flirt. Doch was muss man tun, um seinen Melatoninspiegel möglichst gering zu halten? Ein einfaches Rezept hilft: Raus in die Sonne und ans Licht. Da Melatonin ausschließlich bei Dunkelheit produziert wird und Helligkeit nicht ausstehen kann, erlischt die Melatoninerzeugung sobald sich die Sonne über dem Horizont erhebt und uns an der Nase kitzelt. Dann können sie endlich kommen, die unsagbar schönen Frühlingsgefühle!

Heißt dies nun, dass wir Sklaven eines Hormons sind, wenn uns im Frühling die Liebessehnsucht packt? Zum Glück nicht, denn die Existenz des Melatonins beweist nur, dass es eine körperliche Grundlage für das, was in unserem Geist passiert, gibt. Ob wir diese Gefühle unterdrücken oder ihnen nachgeben, ist ganz uns selbst überlassen. Oder manchmal etwa doch nicht? Wenn es erst einmal richtig gefunkt hat, ist frisch Verliebten eigentlich kaum mehr zu helfen. Denn jetzt fangen zu allem Überfluss auch noch die Sexualhormone an, verrückt zu spielen. Für die enthusiastischen Gefühle, wenn wir uns verlieben sind sogenannte Neurotransmitter (Nervenbotenstoffe) verantwortlich. Serotonin, Dopamin, Endorphine und Kollegen setzten uns die rosarote Brille auf und lassen die Vertreter des anderen Geschlechts attraktiver erscheinen, als sie bei nüchterner Betrachtung wären.

Hat man sich erst einmal für eine Person entschieden, so hat das Kuschel-Hormom Oxytocin seinen großen Auftritt auf der Bühne der Gefühle. Es sorgt für eine Vertiefung der Bindung und ist für Empfindungen wie Vertrauen und Geborgenheit verantwortlich. So wie man durch Licht die Melatoninproduktion anregen kann, kann man auch dem Oxytocin auf die Sprünge helfen: "Hautkontakt" ist das Zauberwort. Schließlich ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Schmusemangel uns unzufrieden macht. Ach, was würden wir armen, unwissende Menschen bloß tun, hätten kluge Wissenschaftler und Verhaltensforscher in den fünfziger Jahren dieses Phänomen nicht untersucht und uns über die Biologie der Frühlingsgefühle aufgeklärt?

Nun, es scheinen sich doch nicht alle Verliebten an die wissenschaftlich gewonnen, überprüften, getesteten und ausgewerteten Ergebnisse zu halten. Müssten wir sonst nicht alle im Winter Geburtstag haben...? Wenn die Hormone Hochsaison (Melatonin aber eher Nebensaison) haben, liegt die Vermutung nahe, dass die Hebammen etwa neun Monate später alle Hände voll zu tun bekommen. "Nun dann wären wir in etwa im Januar", rechnet Andrea Schindler, Hebamme aus Oberkirch. Zwar ist der erste Monat im Jahr ist nicht geburtenschwach, aber ein echter Vorzeigemonat ist er nicht. "Da sind viel eher November und Juli zu erwähnen", meint Schindler. "Im März ist auch einiges los. Das lässt sich auf die Sommerferien zurückverfolgen," schmunzelt sie. Juli minus neun... Herbstferien. Und der November lässt auf die Fastnachtszeit schließen, scheinbar sind da nicht nur Hormone am Werk. "Ob diese Schwankungen ausschließlich von den Hormonen abhängen, bin ich mir nicht so sicher. Vielmehr scheinen die Ferien eine gewisse Rolle zu spielen", tippt die Hebamme.

Auch beim Kondomkonsum gibt es saisonale Schwankungen. "Die Verkaufszahlen sehen aus wie eine Börsenkuve", verrät Carmen Obst, Pressesprecherin von Durex. Absoluter Höhepunkt ist zwischen der 21. und 25. Woche, also von Mai bis Juni. Der Oktober dagegen erinnert an den Schwarzen Freitag, hier hat die Kurve einen regelrechten Einbruch. Auch im März scheint niemand so recht Lust zu haben, Kondome zu kaufen. Kurz vor Weihnachten bringt die Kuschelsaison die Kurve dann doch noch einmal kräftig zum Steigen - trotz unseres Dunkelheit-Melatonins!

Ist da vielleicht das Kuschel-Hormon Oxytocin am Werk? Pfeift doch auf die Wissenschaft genießt sie einfach so wie sie sind - die Frühlingsgefühle!

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 05. Mai 2001: PDF-Version herunterladen

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