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Ägypten

In Borg El-Megheisil beginnt die Reise vieler syrischer Flüchtlinge nach Europa

Karim El-Gawhary
  • Mo, 04. April 2016
    Ausland

     

In einem Fischerort im Nildelta beginnt die Reise vieler syrischer Flüchtlinge nach Europa / Die Balkan-Route ist dicht, das Geschäft in Ägypten brummt bald wieder.

Die Route führt von Ägypten nach Italien. Foto: dpa
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Zu den Schleppern geht es entlang verschlungener holpriger Straßen. Malerische Dattelpalmenhaine und große Schilfflächen rahmen den Weg. Hier, am nördlichen Ende des Nildeltas, wo der westliche Rosetta-Nil-Arm das Mittelmeer trifft, schmeckt die Brise salzig. Borg El-Megheisil scheint auf den ersten Blick ein ganz normales ägyptisches Fischerdorf zu sein. Ein paar Fischkutter liegen im Sand auf Grund. Andere fahren gemächlich den Nil abwärts, die letzten paar hundert Meter in Richtung Meer. Auf der Dorfstraße kämpfen Autos, Motorrikschas und Eselkarren um die Vorfahrt. Knatternde Dieselmotoren pumpen das Wasser aus dem Bewässerungskanal auf die benachbarten Felder.

Was man auf den ersten Blick nicht gleich sieht: Praktisch das ganze Dorf lebt vom Menschenhandel, von der Schlepperei. Fast jeder hier macht Geschäft damit, vor allem syrische Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Italien zu bringen. Reda, in ihrer schwarzen, elegant bestickten Abaya, ihrem Umhang, ist so etwas wie die Dorfmatrone. Sie selbst besitzt zwei Boote. Die seien von der Schleppermafia gestohlen worden. Das behauptet sie zumindest. Denn beide Schiffe sind inzwischen von den Behörden konfisziert worden. Sie ist eine der wenigen, die offen über die dunkle Seite des Dorfes redet. "Die großen Schmuggler, die kennen wir alle beim Namen, die nutzen die Jugendlichen des Dorfes aus, von denen 95 Prozent im Schlepperhandel arbeiten", erzählt sie. Eine Bootsladung mit Flüchtlingen nach Italien werfe umgerechnet bis zu 300 000 Euro Gewinn ab. "Da sind Leute im Dorf über Nacht zu Millionären geworden."

Den eigentlichen Reibach machen die großen Schlepper im Hintergrund und die Bootsbesitzer, erklärt Reda. Die Vorgehensweise ist immer die gleiche: "Jeder große Schlepper hat mehrere Vertreter, die die Flüchtlinge zusammensammeln und dann in einem Haus oder in einer Viehscheune zwischenlagern, wie sie das nennen, bis sie sich mit dem Bootsbesitzer einig geworden sind. Dann bringen sie die Flüchtlinge mit kleinen Booten zu größeren. Von dort geht es nach Italien."

Vier bis sieben Tage dauert die Reise, entlang der Küste hinüber in libysche Gewässer und dann an über das Meer an die italienische Küste. Die Polizei in Borg El-Megheisil mischt wohl schon lange bei diesem Geschäft mit, vermutet die Bootsbesitzerin Reda. "Mit Geld kann man alles erreichen." Die Polizisten würden von den Schleppern ihren Lohn abholen. "Wer die Leute von Staat bezahlt, der kann alles machen und wird niemals zu Rechenschaft gezogen", schimpft sie.

Die großen Schlepper im Ort lassen sich nicht zu ihren Geschäften interviewen. Sie halten sich bedeckt. Aber unten am Strand des Fischerorts trifft man auf die kleinen Fische des Geschäfts: die Jugendlichen. Sie sind es, die mit den Booten hinausfahren. "Ich bekomme für eine Ladung, die ich hinüberbringe, umgerechnet 500 Euro", berichtet einer von ihnen, ein Schüler, der sicher noch keine 18 Jahre alt ist und der seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen will. Es sei schwer, weil die Flüchtlinge oft in einem schlechten Zustand seien. Aber der junge Mann mit seiner Baseballkappe und den Kopfhörern im Ohr hat weder Zweifel noch Skrupel. "Wenn es wieder eine Gelegenheit gibt, werde ich es wieder machen." Er warte nur darauf, dass die Schule zu Ende gehe. In den Ferien würde es wieder losgehen. Schlepper als Ferienjob? "Bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet", versichert er. Es sei ganz einfach, fügt er hinzu: "Entweder du arbeitest hier als brotloser Fischer oder du fährst die Italien-Route."

In der eine Autostunde entfernten Hafenstadt Alexandria hat sich die Lokaljournalistin Hana‘a Abul Ezz auf Recherchen rund um Flüchtlinge und die Schlepper spezialisiert. Dass diejenigen, die am Ende die Boote steuern, so jung sind, hat System, erklärt sie. "Diejenigen, die auf den Schiffen arbeiten, sind meist unter 18. Wenn das Schiff dann vor Italien aufgebracht werden sollte, dann können sie nur Minderjährige festnehmen. Meist werden sie dann als Opfer behandelt, bekommen einen Flüchtlingsstatus und statt ins Gefängnis werden sie in Italien in die Schule geschickt", erläutert sie. Wenn die großen EU-Kriegsschiffe also zur Schlepperbekämpfung durchs Mittelmeer kreuzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nur ein paar ägyptische Schuljungen aufgreifen.

Wie aber kommen die Schlepper an ihre Kunden? Die Journalistin Abul Ezz hat auch das recherchiert. "Die Vertreter der Schleppermafia gehen in die Cafés in Alexandria, in denen sich die syrischen Flüchtlinge aufhalten. Sie sprechen sie an und versprechen ihnen, dass sie ihnen helfen können. Ausgemacht wird dann ein Preis zwischen 3000 bis 3500 Dollar für die Überfahrt."

Das also ist der Beginn der Reise. Wann die Fahrt dann losgeht, würde den Flüchtlingen lange nicht gesagt. Irgendwann bekommen sie einen Anruf und bekommen mitgeteilt, wo sie sich versammeln sollen. Von dort werden sie meist mit einem Bus zu einem entlegenen Ort gebracht und in einem Haus "zwischengelagert", erzählt die Journalistin. Zuvor würden ihnen vorläufig die Handys abgenommen, damit sie mit niemanden Kontakt aufnehmen können. Wenn die Reise losgeht, werden sie meist mitten in der Nacht geweckt, zu kleinen Booten an der Küste gebracht und damit zu größeren draußen im Meer gefahren.

"Bei den Schleppern sind viele an der Operation beteiligt. Einige sichern den Ort ab, von dem es losgeht. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles kalkuliert. Auch das Meer wird überwacht. Die wissen genau wann und wo die Küstenwache langfährt."

Nicht immer geht das für die Schlepper gut aus, vor allem nicht für jene, die die Boote gesteuert haben und die manchmal doch über 18 Jahre alt waren. Mehrere Familien laden im Dorf in ihre Häuser ein und erzählen, dass ihre Söhne in Italien verhaftet wurden, andere wurden entlang der Strecke aufgebracht und sitzen in Libyen oder sogar in Tunesien im Gefängnis. "Ich dachte, mein Sohn sei rausgefahren zum Fischen. Dann habe ich gehört, er sei in Italien festgenommen worden", erzählt dessen Mutter. "Wir haben bisher kein Geld von dem großen Schlepper bekommen. Der hat uns ganz schön über den Tisch gezogen", klagt sie. "Der sollte verhaftet werden. Der organisiert jeden Tag eine neue Tour." Sie deutet in den hinteren Teil des Dorfes. "Da drüben, nicht weit von hier, hat der große Schlepper sein Haus". Es ist ein völlig neues dreistöckiges Haus, das zwischen den heruntergekommenen Nachbargebäuden heraussticht. Vom Balkon hat man einen direkten Blick auf den Nil.

Einige der Gebäude im Dorf sind neu gebaut oder frisch renoviert. Diese Häuser seien nicht mit ägyptischen Pfunden, sondern mit den Dollars der Flüchtlinge finanziert. "Jeder im Dorf träumt davon, eines Tages auch so ein schönes mehrstöckiges Haus wie der Schlepper zu besitzen", beschreibt die Bootsbesitzerin Reda die Gefühlslage der Dorfbewohner. Doch die neuen Häuser sind nur ein Teil des Reichtums; viele Schlepper haben ihr Vermögen anderswo angelegt, oftmals im Ausland. "Sie haben Angst gefragt zu werden, wo sie das Geld herhaben. Also bauen sie sich ein Parallelsystem auf", erklärt die Lokaljournalistin Abul Ezz. Zunächst besäßen sie noch eine zweite große Wohnung in Alexandria. "Sie fahren regelmäßig nach Italien oder Frankreich oder an andere Orte in Europa. Dort haben sie sogar Wohnungen und manchmal eine andere Arbeit. Sie kommen ab und zu, um ihre Familien im Dorf zu besuchen. Sie haben ein schönes mehrstöckiges Haus hier, aber ihr wirkliches Leben findet woanders statt." Die Zeichen stehen gut, dass sich die neureichen Dorfbewohner weiter am Flüchtlingselend bereichern können. "Die Westbalkan-Route ist dicht, Libyen ist zu chaotisch und gefährlich, also wird Ägypten unter den syrischen Flüchtlingen ab dem Frühling wieder Konjunktur haben", erläutert der auf Flüchtlinge spezialisierte Anwalt Muhammad Said in Alexandria. Ägypten verweigert weiteren Flüchtlingen aus Syrien seit vergangenem Jahr den Zugang, offiziell leben derzeit über 130 000 registrierte syrische Flüchtlinge hier. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weit höher. Neue Routen werden erprobt. "Der einzige Weg für die Syrer, heute nach Ägypten zu gelangen, um von hier dann nach Italien weiterzureisen, der verläuft über den Libanon. Von dort fliegen sie in den Sudan, weil sie in Ägypten kein Visum mehr bekommen. Dann gehen sie zu Fuß durch die Wüste, drei, vier Tage lang, bis sie im südägyptischen Assuan ankommen", beschreibt der Anwalt die neue Flüchtlingsroute.

Skrupel oder gar Zweifel?

Die hat der Junge nicht

Einmal in Ägypten angekommen, geht es weiter nach Alexandria. Dann werden die Syrer in den Cafés von den Schleppern angesprochen und dann geht es weiter wie gehabt, auch über das Schlepperdorf Borg El-Megheisil. Dort bereiten sie die Kutter für die nächste Ausfahrt vor. Keiner weiß, ob sie nachts zum Fischen oder zum Schmuggeln rausfahren. "Hier haben sie schon alles geschmuggelt", erzählt die Bootsbesitzerin Reda. Politische Dissidenten und Muslimbrüder werden hinausgeschmuggelt, Waffen und IS-Kämpfer und natürlich auch Drogen gelangen ins Land. "Aber das Geschäft mit den Flüchtlingen", sagt sie, "das ist viel lukrativer als der Drogenhandel".

Im Dorf der Schlepper gelten eigene Gesetze. Die Schleusermafia gibt den Ton an, während die Jugendlichen davon träumen, eines Tages auch einmal ein so schönes Haus zu haben. Sicher, sie sind hier fast alle hier kriminell und in dunkle illegale Geschäfte verstrickt. Aber für die Flüchtlinge sind sie auch ein Ticket – das einzige, dass sie nach Europa bringt.

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 04. April 2016: PDF-Version herunterladen

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