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Essay

Warum wir ausgerechnet jetzt Katastrophenfilme gucken

Gabriele Schoder

Von

Fr, 03. April 2020 um 20:00 Uhr

Kino

Ein Zeichen von Langeweile, Dekadenz oder Lust am Horror? Katastrophenfilme boomen in der Corona-Krise. Und nicht selten haben sie sogar einen Hoffnungsschimmer.

Chaos und Plünderung  in einer von Cov...iller „Contagion“ von 2011  | Foto: ullstein bild - United Archives
Chaos und Plünderung in einer von Covid-19 besonders gebeutelten Region? Nein, Jude Law in einer Szene aus dem Seuchenthriller „Contagion“ von 2011 Foto: ullstein bild - United Archives
Der Film hat noch gar nicht angefangen, da jagt er uns schon einen kalten Schauer über den Rücken. Über ein einziges trockenes Husten auf der Tonspur. O Gott, schweres akutes Atemwegssyndrom, Corona, Seuche! In den folgenden 100 Minuten kommt man gar nicht mehr raus aus dem Frösteln: Steven Soderberghs Thriller "Contagion" ("Ansteckung") scheint das Drama des Frühjahrs 2020 direkt vor Augen zu haben, sogar den Ursprung der Epidemie unter Beteiligung einer Fledermaus. Dabei wurde er bereits 2011 gedreht.

Der US-amerikanische Regisseur und sein Drehbuchautor Scott Z. Burns ("Das Bourne Ultimatum") steigerten da sämtliche Ängste, die die erste Sars-Epidemie zu Beginn des Jahrtausends auslöste, auf gnadenlos spannende Weise. Aber doch als realistisches, weil nach wissenschaftlicher Beratung entworfenes Szenario. An Sars I starben in den Jahren 2002/2003 freilich weltweit nur 774 Menschen, davon gerade mal 45 außerhalb Asiens. Soderberghs Film aber zeigt unzählige Tote, dazu Plünderungen, Verteilungskämpfe, Verschwörungstheorien, Kriegsgewinnler und den Ausverkauf der Humanität. Sowas konnte man sich 2011, zumal aus dem Abstand von ein paar Jahren, ja noch relativ entspannt anschauen, aber jetzt?

Sind das durchgeknallte Zyniker, die sich in der Corona-Krise unserer Tage ausgerechnet einen Seuchenschocker reinziehen? Zunächst mal: Es gucken viele. Und "Contagion", der es sogar in die Top Ten der iTunes-Charts schaffte, ist nur einer von etlichen Katastrophenfilmen, die derzeit in den Spätprogrammen der Fernsehsender und auf Netflix, Amazon Prime, Joyn, Sky & Co. gesucht werden.

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Das Genre boomt, allen voran Zombie-Apokalypsen und düstere Science-Fiction wie "World War Z." (2013) von Mark Forster, "12 Monkeys" (1995) von Terry Gilliam, "I am Legend" (2007) von Francis Lawrence oder "Dawn of the Dead" (2004) von Zack Snyder – oder Serien wie "The Walking Dead" (seit 2010). Aber auch Filme über Natur- und Klimakatastrophen werden in diesem Frühjahr gerne im heimischen Wohnzimmer besichtigt, Angriffe von Außerirdischen und Kometen, die die Erde verwüsten. Filme also wie "Independence Day"(1996) oder "The Day after Tomorrow" (2004), die Roland Emmerich inszenierte, der Master of Disaster aus Deutschland.

Die Bedrohung kommt ins Bild, sie wird konkret

Die neue Lust auf Endzeitvisionen allein als Dekadenzphänomen zu erklären oder als Katastrophengeilheit einer gewaltaffinen Klientel, die sich ihre Langeweile daheim mit krachender Action vertreiben will: Das griffe zu kurz. Sicher spielt die Tatsache, dass derzeit für viele das Leben nur zu Hause stattfindet, bei der Filmauswahl eine Rolle. Aber die zeigt eben auch, was fehlt, wenn der Shutdown aufs Sofa zwingt: etwas tun zu können.

Stellvertretend werden da die Filmfiguren aktiv, sie gehen unerschrocken in den Nahkampf, sie rennen und retten, sie stemmen sich mit aller Kraft gegen die Bedrohung und treiben dabei auch beim Zuschauer den Adrenalinspiegel in die Höhe. Wer in einem Krankenhaus arbeitet oder in der Pflege, dürfte dagegen momentan wenig Bedürfnis nach einem Katastrophenfilm haben...

Die alte Kartharsis-Theorie vom Kunstwerk, das über die Erregung von Furcht und Mitleid die Seele läutert, besaß für Dystopien im Kino schon immer Relevanz, jetzt aber auf besondere Weise. Denn in Ländern wie Deutschland mit bisher relativ wenigen Toten durch Covid-19 ist die Furcht zwar groß, aber diffus. Im Katastrophenfilm bekommt sie ein Gesicht. Es muss gar nicht so verblüffend ähnlich aussehen wie in "Contagion", um kathartische Wirkung zu entfalten: Die Bedrohung kommt ins Bild, sie wird konkret. Und damit ermöglicht der Film, was der eigene Panikfilter sorgfältig tabuisiert und seriöse Reportagen selbst aus den am heftigsten vom Virus betroffenen Krisengebieten nie detailliert zeigen würden: sich das mögliche Unheil anzuschauen, im Wortsinn zu Gemüte zu führen.

Weil aber zum Narrativ des Hollywoodkinos die dramatische Überzeichnung und überwältigend wuchtige Bebilderung gehört, kann der Katastrophenfilm seine Fiktionalität nicht leugnen. Und genau das bringt emotionale Entlastung: Schlimmer geht’s immer, aber so schlimm wie da ist unsere Realität ja dann doch nicht...

Der Film ist – im Gegensatz zur Pandemie – in zwei Stunden vorbei

Ganz ohne Hoffnungsschimmer endet freilich auch in diesem Genre kaum ein Film, selbst wenn er zuvor Idole des Publikums in den Tod schickte, in "Contagion" etwa Gwyneth Paltrow und Kate Winslet. Botschaft: Es wird brutal und bitter, Helden mögen sterben, wir aber werden überleben. Was den Katastrophenfilm derzeit jedoch besonders attraktiv macht, ist schlicht seine Länge. In eineinhalb, zwei Stunden entwickelt er ein Horrorszenario und überwindet es auch wieder.

Davon können wir nur träumen in diesen Tagen. Wir haben keine Ahnung, wie groß die weltweite Katastrophe wird, aber was vielleicht noch schlimmer ist: Keiner weiß, wie lange sie dauert.

Ressort: Kino

  • Zum Artikel aus der gedruckten BZ vom Sa, 04. April 2020:
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