Warum Snapchat ein Riesen-Ding ist

Do, 12. November 2015 um 14:44 Uhr

Isabel Vogel
„Snapchat ist Standard“, sagt Isabel Vogel. Die 16-jährige Freiburgerin verschickt mit der Messaging-App Aufnahmen aus dem Matheunterricht oder vom selbstgebackenen Kürbiskuchen. Gerade war sie auf einem Schüleraustausch in den USA.
Dort ist schon mehr als ein Drittel der Teenager bei Snapchat. Auch einige von Isabels Freunden am Freiburger Friedrich-Gymnasium haben die kostenlose App mit dem Geist-Logo installiert. Jeden Tag nutzen sie 100 Millionen Menschen.
Wörtlich übersetzt ist Snapchat eine Unterhaltung bestehend aus Schnappschüssen. Es schließt die Lücke zwischen einem Foto oder Video und einer Nachricht im Sinne einer klassischen SMS. In dieser Woche hat das Unternehmen neue Zahlen bekanntgegeben: Nach eigenen Angaben zählt es 6 Milliarden Video-Aufrufe pro Tag. Damit macht es Facebook Konkurrenz. Im Schnitt sendet Isabel täglich 50 sogenannter Snaps. „Wenn ich in der Stadt bin, will ich das nicht schreiben. Also schicke ich ein Foto.“
Die Geschichte der App beginnt mit einem Problem. Wir schreiben das Jahr 2011. Evan Spiegel, Anfang 20, studiert an der Universität Stanford, als ein Freund jammert: „Ich wünschte, die Fotos, die ich einem Mädchen geschickt habe, würden verschwinden.“ Um das Problem zu lösen, erfindet Spiegel mit zwei weiteren jungen Freunden Snapchat.
Die Idee: Nutzer können Foto- und Video-Nachrichten von einer Länge bis zu zehn Sekunden aufnehmen und versenden. Gleich nach dem ersten Anschauen werden diese automatisch gelöscht. Das scheint das Problem der Studenten tatsächlich zu lösen. Bald schicken Nutzer einander die ersten Nacktfotos und Snapchat erlangt einen Ruf als Sexting-App.
Vier Jahre später hat es sein Schmuddel-Image abgelegt. Evan Spiegel zählt mittlerweile zu den jüngsten Milliardären der Welt. Im vergangenen Jahr bot Facebook 3 Milliarden Dollar für eine Übernahme und Google sogar 4 Milliarden. Spiegel lehnte ab.
Immer wieder erweitert Snapchat seine Funktionen. Dazu gehören Filter, die Nutzer über ihre Aufnahmen legen können. Sie verändern die Farben oder ergänzen das Bild durch Angaben wie die Uhrzeit, die Temperatur oder den Ort.
Lenses sind eine Reihe wechselnder Effekte für Selbstportraits: Mit dem einen speit der Fotograf einen Regenbogen, sobald er den Mund aufmacht, mit dem anderen setzt ihm die App eine Krone auf. „Das war am Anfang mal cool, jetzt benutze ich es nicht mehr so oft“, sagt Isabel Vogel. Dabei sind die Lenses noch keine zwei Monate alt.
Eine Profilseite wie bei Facebook oder Instagram sucht man bei Snapchat vergeblich. Statt Snaps direkt an Freunde zu schicken, kann man sie auch in der eigenen Story speichern – einer Art Tagebuch. Dort bleiben sie für 24 Stunden erhalten.
Je nach Einstellung sind diese Stories sogar öffentlich einsehbar. Wer sie anschauen will, muss allerdings den Namen oder die Telefonnummer des Snapchatters kennen. So verbreitet sich die App unter dem Radar, lebt vor allem von Mundpropaganda unter Jugendlichen. „Sie ist etwas Neues, das man ausprobieren möchte“, sagt Isabel.
Die große Stärke von Snapchat bleibt die Vergänglichkeit der Aufnahmen. Selbst reine Textnachrichten verschwinden im Nu – und das in einer Zeit, in der Facebook alles konsequent speichert. Schon Jugendlichen wird eingebläut: „Das Internet vergisst nie!“ Snapchat bildet die Ausnahme – mit einem Zugeständnis: Einmal am Tag können Nutzer einen Snap ein zweites Mal abspielen, weitere Wiederholungen kosten Geld.
„Wir sind es gewohnt, Dinge, die wir verpasst haben, auch später noch anschauen zu können“, sagt der Journalist und Netzexperte Richard Gutjahr. Als er Ende Oktober eine Woche in Kalifornien verbringt, wagt er ein Experiment: Er stellt Facebook und Twitter ab, dokumentiert seine Tage dafür bei Snapchat.
Während der 42-Jährige durch einen Park in der Nähe der Universität Berkeley schlendert, beobachtet er eine Gruppe junger Studenten. „Bei dieser Generation ist das anders: Hat sie etwas verpasst, weint sie dem nicht mehr hinterher. Snapchat zwingt einen, loszulassen – eine Reaktion auf den Medienoverkill. Wir müssen das noch lernen“, sagt Gutjahr.
Das automatische Löschen der Snaps senkt die Hemmschwelle, eigene Fotos oder Video zu teilen. Das macht die Aufnahmen weniger gekünstelt als beispielsweise auf Instagram. Tatsächlich macht Snapchat glücklicher als andere soziale Netzwerke – das will zumindest die Universität Michigan in einer Studie herausgefunden haben. Weil Nutzer keine Likes vergeben oder Kommentare hinterlassen können, sorgen sie sich weniger darum, wie ihre eigenen Snaps ankommen.
Auch die Werbebranche hat Snapchat entdeckt. Konzerne wie McDonald’s bezahlen Geld für eigene Filter, Sony Pictures bewarb den Kinostart des neuen James-Bond-Films mit Kurzvideos. Selbst Fernsehsender wie MTV oder CNN sind vertreten – mit sogenannten Discover-Kanälen. 15 Stück gibt es, sogar Nachrichten bereiten Medien für Snapchat auf.
Das Thema Information nimmt das Unternehmen so ernst, dass es einen Politik-Redakteur von CNN abgeworben und ihn zu seinem News-Chef gemacht hat. In „Live Stories“ stellt das Team ausgewählte Snaps zusammen: vom Papstbesuch in New York oder dem Bundesliga-Kracher Bayern gegen Dortmund. Dabei reizt die ungewohnte Perspektive: Statt durch die Fernsehkamera sehen die Nutzer Franziskus oder Pep Guardiola durch die Augen normaler Menschen – das kann ein Zuschauer sein oder der Balljunge.
Richard Gutjahr
Isabel Vogel folgt auf Snapchat Mode-Bloggern, aber auch Prominente gewähren Einblicke in ihren Alltag. Man kann zuschauen, wie sich ESC-Gewinnerin Lena Meyer-Landrut vor einer Talkshow schminken lässt oder Moderatorin Palina Rojinski feiern geht – praktisch live.
Zu den erfolgreichsten deutschen Snapchattern gehört Bianca Heinicke. Bekannt wurde sie mit Schminktipps auf ihrem YouTube-Kanal „BibisBeautyPalace“. 300 000 Menschen schauen ihr bei Snapchat nach eigenen Angaben zu – pro Aufnahme. Der wohl größte Star ist der Amerikaner Shaun McBride alias Shonduras, eigentlich Snowboard-Verkäufer in Utah. Mittlerweile testet er Halfpipes und hat Werbeverträge mit Disney oder der Major League Soccer. Angeblich kassiert er 30 000 Dollar pro Deal.
Die Währung, die Snapchat für Produzenten so interessant macht, heißt Aufmerksamkeit, davon ist Richard Gutjahr überzeugt: „Früher sind die Massenmedien Einschaltquoten oder Auflagenzahlen hinterhergelaufen. Das wandelt sich.“ Bei 8000 Haushalten, in denen eine Fernsehsendung läuft, wisse man nie, wie viele Menschen sie tatsächlich ansehen. „80 Zuschauer bei Snapchat könnten da schon viel mehr wert sein“, sagt der Medienexperte.
Wie groß das Potential der App sein kann, wurde bei den MTV Video Music Awards im August deutlich: Fünf Millionen US-Amerikaner sahen die Verleihung im Fernsehen. Am selben Tag hatte der Sender 25 Millionen Snap-Aufrufe.
Gutjahr betrachtet die Präsidentschaftswahlen in den USA als Bewährungsprobe. „Vieles deutet darauf hin, dass Snapchat dabei an Fahrt aufnehmen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute danach nicht mehr die Augen verdrehen und fragen: Was soll das?!“ Auch in Deutschland scheint sich die App jetzt zu verbreiten. „Seit einem halben Jahr steigt die Zahl der Nutzer in meinem Umfeld an“, sagt Isabel. Der Geist geht um die Welt.
Add uns auf Snapchat und schick uns Deine Freiburg-Snaps!
Bento (Jugendportal von Spiegel Online): bento_de
Bianca Heinicke (YouTube-Star Bibis Beauty Palace): bibis.beauty
Claudia Zakrocki (Journalistin und Mode-Bloggerin, ursprünglich aus Lahr): cloudy_z
DASDING (Jugendradio des Südwestrundfunks): dasding.de
Dejan Mihajlovic (Lehrer an den Freiburger Wentzinger Schulen): herrmihajlovic
FC Bayern München: FCBayernSnaps
Hans Entertainment (Facebook-Star und Entertainer aus Kenzingen): amenakoi-hans
Lena Meyer-Landrut (Sängerin): helloleni
Max Kruse (Fußball-Nationalspieler, früher beim SC Freiburg): jimmyhendrixx10
Palina Rojinski (Moderatorin): palinarojinksi
Richard Gutjahr (Journalist und Blogger): richardgutjahr
Shaun McBride (Zeichner, Snowboard- und Skate-Fan): shonduras
Vacation Beats (Freiburger Party-Reihe): vacationbeats
We Are Young (Freiburger Party-Reihe): weareyoungparty
Daniel Laufer (fudder-Redakteur): daniellaufer
Marius Notter (fudder-Mitarbeiter): marierwin
Tipp: Wartet einen Augenblick, bis die Galerie komplett geladen ist. Ihr könnt euch dann ganz bequem jeweils das nächste Foto anzeigen lassen, indem ihr auf eurer Tastatur die Taste "N" (für "next") drückt.