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Cannabis bei Jugendlichen

"Das Gehirn ist da eine Großbaustelle und besonders irritierbar"

Julia Giertz, dpa

Von Julia Giertz & dpa

Fr, 19. Juni 2020 um 09:08 Uhr

Südwest

Die Gefahren des Kiffens für Jugendliche sind wenig bekannt. Die Folgen können Familien aus der Spur werfen. Experten warnen: Heutiges Cannabis habe nichts mit den Joints der 68er zu tun.

Irreversible Schäden sind möglich. Foto: Arne Immanuel Bänsch
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Stefan war fleißig und strebsam, alle Wege schienen ihm offenzustehen - die Eltern Laura und Peter Müller (Namen von der Redaktion geändert) sahen für ihren Sohn nach dem Abitur eine Karriere als Maschinenbauer voraus. "Er war ein Sonnenkind", erinnert sich Laura Müller. Doch vor zwei Jahren aus der Traum: Der Achtklässler kommt nicht mehr regelmäßig zum Schlafen nach Hause, ist in der Schule auffällig und überdreht, wirkt teils bedrohlich. Bis es dem Rektor von Stefans Gymnasium im nördlichen Württemberg zu viel wird: Er verweist ihn der Schule, und der damals 16-Jährige kommt erstmals in die Psychiatrie.

Die Diagnose ist ein Schock für die Eltern, eine Maschinenbauerin und ein IT-Ingenieur: schizophrene Psychose im Zusammenhang mit regelmäßigem Konsum von Cannabis. Ein Kraut, das gemeinhin als harmlos gilt, aber bei Jugendlichen irreversible Schäden anrichten und das Leben der Eltern auf den Kopf stellen kann. "Ich war verzweifelt", sagt Laura, die wie ihr Mann nie zuvor mit dem Thema in Berührung gekommen war. Beide Eltern plagen seitdem Schuldgefühle. "Ich frage mich bis heute, was wir falsch gemacht haben: Waren wir zu streng, zu nachgiebig, zu wenig konsequent?", sagt die 54-Jährige. Solche Gedanken, Ängste sowie die Suche nach Hilfe und Information über die Krankheit ihres Sohnes dominieren das Leben des Akademikerpaares. Der eineinhalb Jahre ältere Bruder Stefans will mit der Misere nichts zu tun haben und zieht bald in eine eigene Wohnung.

Männer konsumieren häufiger als Frauen

Cannabis ist die am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutschland. Nach Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben 10 Prozent der Teenager und rund 40 Prozent der 18- bis 25-Jährigen schon mindestens ein Mal Cannabis geraucht. Männer konsumieren demnach häufiger als Frauen. Jeder zehnte männliche junge Erwachsene kifft regelmäßig. Nach einer 2019 veröffentlichten europaweiten Fall-Kontroll-Studie ist die Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Störung bei täglichem Cannabisgebrauch drei Mal, bei Konsum von besonders starkem Stoff fünf Mal höher als bei Nicht-Konsumenten.

Nach Ansicht des Kinder- und Jugendarztes Wolfgang Kölfen ist Cannabiskonsum gerade in der Pubertät gefährlich. "Das Gehirn ist da eine Großbaustelle und besonders irritierbar und leicht aus der Balance zu bringen", sagt der Vizepräsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.

"Kiffen ist nicht cool"

Die Müllers wissen nicht, ob Stefan die Substanz zuerst genommen und danach psychisch erkrankt ist oder umgekehrt. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, ist hingegen überzeugt, dass Cannabis Psychosen auslösen kann: "Aus unzähligen, weltweiten Studien wissen wir: Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einem regelmäßigen und frühen Cannabiskonsum und psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten oder auch chronischen Atemwegserkrankungen." Mit einer neuen Social-Media-Kampagne "Kiffen ist nicht cool" will die CSU-Politikerin jungen Menschen die Gesundheitsrisiken des Stoffs vor Augen führen und "aktiv gegen die falschen Verharmlosungsslogans der Hanffreunde vorgehen."

Befürworter sehen in einer Legalisierung für Erwachsene ein Ende des Schwarzmarktes. Mit einem kontrollierten legalen Markt könnten das Verbot, Marihuana an Minderjährige zu verkaufen, sowie die Reinheit des Stoffes wirksam überwacht werden, argumentieren etwa die Grünen im Bundestag in einem Gesetzentwurf für ein Cannabiskontroll-Gesetz. Überdies habe die bisherige Prohibitionspolitik Jugendliche nicht vom Konsum abgehalten und bedeute für alle anderen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die persönliche Freiheit - auch im Vergleich zu Alkohol. Der Bundestag lehnte den Entwurf 2017 ab.

Suizidgedanken als mögliche Folgen

Psychosen, wie sie auch Stefan hat, sind Störungen der Wahrnehmung: Betroffene glauben, sich in einem Film zu befinden, durch den Rauchmelder beobachtet zu werden oder hinterrücks ausgelacht zu werden. Den Wahrnehmungen ist eines gemeinsam: Sie haben mit der Realität nichts zu tun. Stefan, ein kräftiger Typ, meint etwa, magersüchtig zu sein und mehr essen zu müssen. Die Eltern können ihn nicht von dem Gegenteil überzeugen.

Als weitere mögliche Symptome des Cannabis-Missbrauchs nennt Mediziner Kölfen: Aggressivität, innere Leere, erhöhte Schweißbildung, fehlende Urin-Kontrolle, Impotenz. Selbstverletzungen und Suizidgedanken sind weitere mögliche Folgen. Und auch die kognitiven Fähigkeiten können beeinträchtigt werden. "Die jungen Menschen brennen sich sechs bis zehn IQ-Punkte weg - unwiderruflich." Von den ebenfalls als Wirkung des Cannabis bekannten Stimmungsschwankungen ihres Sohnes kann Laura Müller ein Lied singen: Neulich bezeichnete er sie als "die Frau, die mir Essen und Geld gibt". Die engagierte Mutter sagt: "Das tut weh."

Arztbesuche rauben Eltern nicht nur Energie

Stefans Weg nach dem Rauswurf aus der Schule war vom sogenannten Drehtür-Effekt bestimmt: mehrfache Aufenthalte in der Psychiatrie, Aufnahme in eine Spezialeinrichtung für junge Psychosekranke, Reha und wieder in die Psychiatrie. Nun wartet er auf einen Platz im Berufsvorbereitungsjahr für junge Menschen mit Handicap. Die Erkenntnisse der Müllers aus diesem Hin und Her: Die Patienten werden eher medikamentös ruhiggestellt als therapiert. Bei dem letzten Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie sei wegen der coronabedingt dünnen Personaldecke außer Medikation nichts geschehen. Die vielen Arztbesuche rauben den Eltern nicht nur Energie, sondern auch Zeit, die sie mit Hobbys oder Freunden verbringen könnten, erzählt der 53-Jährige Familienvater.

Das Schwierigste im Umgang mit Stefan ist dessen mangelnde Einsicht in den Teufelskreis von Sucht, daraus resultierenden Problemen und verstärktem Griff nach Dope. Dass dieses ihm schadet, will der Süchtige nicht wahrhaben: "Cannabis ist für mich die beste Medizin, das beruhigt mich." Im Beruf seiner Wahl, dem Schreinerhandwerk, könne er auch "stoned" arbeiten, glaubt der junge Erwachsene, der langsam spricht und dessen eine Hand zittert.

THC-Gehalt hat sich massiv erhöht

Dabei hat sich der Gehalt an Tetrahydrocannabinol (THC), der psychoaktiven Substanz in der Hanfpflanze, infolge von Züchtungen in den letzten Jahrzehnten massiv erhöht. "Wer die heutigen Substanzen mit den harmlosen Joints der 1968er Generation vergleicht, liegt völlig falsch", sagt Kölfen. "Das wäre so, als wenn man ein Bierchen mit einer Flasche Wodka gleichsetzt." Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte 2018 den Cannabiskonsum mit dem abendlichen Trinken von Bier verglichen und sich indirekt für eine Legalisierung des Rauschmittels ausgesprochen. Kölfen warnt junge Leute hingegen: "Kifft nicht eure Zukunft weg."

Die seelische Erkrankung der Töchter oder Söhne wirft ganz Familien wie die Müllers aus der Spur. Streitigkeiten über Geld, über Mithilfe im Haushalt, über die Unordnung im Jugendzimmer sind an der Tagesordnung. Besonders schwer zu ertragen ist die von Psychopharmaka verstärkte Antriebsschwäche. Kleine Aufgaben wie das Saugen der Wohnung oder das Tischdecken lehnen die Jugendlichen ab. "Die Krankheit wird auch als Vorwand genutzt, um sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken", sagt Vater Peter Müller. In den betroffenen Familien ist es schon eine Tortur, den Jugendlichen zum Aufstehen zu bewegen. "Das macht die Eltern wahnsinnig", weiß Kölfen.



Dennoch sollten diese ihr Kind nicht aufgeben: "Dranbleiben, nicht auf die Schwächen der Kinder fokussieren, sondern herausfinden was ihnen Spaß macht und das fördern", betont Kölfen. Regeln sollten erklärt und auf den Verstoß konsequent reagiert werden. "Mit leeren Drohungen macht man sich nur unglaubwürdig." Die Diskussion über die Legalisierung von Cannabis sieht der Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche aus Mönchengladbach kritisch. "Bevor der Gesetzgeber daran denkt, sollte er nachweisen, wie die Jugendlichen geschützt werden."

Die Müllers bezweifeln, dass eine Freigabe des Rauschmittels ihrem Sohn geholfen hätte. Sie haben mittlerweile ihre Erwartungen an ihr Kind auf ein Minimum heruntergeschraubt: Wenn Stefan ein einigermaßen selbstständiges Leben führen könnte, wären sie schon zufrieden.

Ressort: Südwest

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